1970 entschloss sich die westfälische Mittelstadt Bocholt, ein neues Rathaus bauen zu lassen, nachdem der Verwaltungsapparat bereits seit Beginn des Jahrhunderts dezentral organisiert war. Der entscheidende Beschluss wurde ausgerechnet angesichts der Gebietsreformen gefasst, in deren Zuge Bocholt seinen Status als kreisfreie Stadt einbüßte. Vom Neubau versprach man sich wohl auch den Ausdruck einer ungebrochenen kommunalen Selbstverwaltung und Identität. Den beschränkten Wettbewerb konnte Gottfried Böhm für sich entscheiden.
Gelegen auf einer künstlichen Insel im Fluss Aa, am Übergang zwischen Alt- und Neustadt, verbindet das Gebäude die beiden Stadtteile. Durch Brückenzugänge an beiden Seiten ist es gleichermaßen Teil des einen wie des anderen Ufers. Da die Fassade in alle Richtungen freisteht, gibt es ausschließlich Schauseiten. Der zweiteilige Komplex besteht aus einem Büro- und einem Theatertrakt. Beide ruhen auf einem Sockel aus lokaltypischem, rotem Backstein. Dieser verkleidet auch das fensterlose Theater, dessen monumentale Massivität sich im Innern als beinahe stützenfreie Spannbetonkonstruktion erweist. Der Verwaltungstrakt hingegen ist vollständig verglast.
Seine Skelettbauweise wird betont durch die grünen Stahlstützen, die – in den oberen Geschossen ergänzt um filigrane Brise Soleils – die Fassade gliedern. Am Haupteingang kommuniziert das Gebäude per identitätsstiftender Symbolik mit dem Außenraum. Über dem Portal erhebt sich als Glasmalerei eine Buche, angelehnt an das Stadtwappen. Daneben ragt der Ratssaal aus der Fassade heraus – eine Reminiszenz an den charakteristischen Erker des historischen Renaissance-Rathauses wenige hundert Meter entfernt. Der Erker des neuen Rathauses ist mit Wellblech verkleidet und kalligrafisch mit bedeutenden Daten der Stadtgeschichte verziert.
Herzstück der Anlage ist die doppelstöckige Bürgerhalle, die sich als gemeinsames Foyer für Büros, Ratssaal und Theater durch die gesamte Gebäudetiefe zieht. Der Backstein des Sockels tritt hier als Bodenbelag zu Tage und verschafft dem Raum den Ausdruck eines überdachten Platzes. Die auffälligen Kugellaternen, die ursprünglich auch die außenliegenden Zugänge säumten, verstärken diesen Eindruck. Die technischen Versorgungsleitungen verlaufen im gesamten Komplex als offen sichtbare Gestaltungselemente an der Decke.
Im Theatersaal, den Gottfried Böhms Söhne Peter und Markus vollständig ausmalten, werden sie zum Ausgangspunkt für beinahe illusionistische Abbilder von Fanfaren. Decke, Türen, Ränge und Säulen werden dort zur Leinwand für teils geometrische, teils figürliche Motive in Violett und Orange. Lediglich die Wände bleiben ausgespart, wobei diese mit ihren Lochziegeln ebenfalls grafisch wirksam werden. Gegenüber der technisch inspirierten Ästhetik von Bürgerhalle und Bürogeschossen öffnet der Theatersaal einen träumerisch-sinnlichen Raum.
Die Anlage ist Kind des demokratischen Aufbruchs der 1960er und 1970er Jahre, in dem Rathäuser als Foren des kulturellen Lebens konzipiert wurden, so wie kurz zuvor in Castrop-Rauxel (Arne Jacobsen, Dissing + Weitling, 1966 – 1976) oder kurz darauf in Ahlen (Brigitte und Christoph Parade, 1974 – 1982, inzwischen zum Abriss vorgesehen). Die Innenräume atmen den Geist der High-Tech-Architektur, die im Pariser Centre Pompidou (Renzo Piano, Richard Rogers, Gianfranco Franchini, 1970 – 1977) ihre Ikone gefunden hat und in Deutschland am prägnantesten im Universitätsklinikum Aachen (Weber, Brand & Partner, 1968 – 1985) zu sehen ist.
Seit 2016 steht das Rathaus und Kulturzentrum Bocholt unter Denkmalschutz und soll bis 2023 nach Plänen von Paul Böhm saniert und um ein Bürogeschoss aufgestockt werden.