DEINE ROUTE

Die Kunst, unverwechselbar zu sein


Traditionen und Institutionen im Werk von Gottfried Böhm


Wolfgang Pehnt
 

Zum ersten Mal steht der Name Gottfried Böhms im Jahre 1946 auf einem Plan neben dem des Vaters. Es war ein nicht realisiertes - und auch keineswegs überwältigendes - Projekt für ein Knabenkonvikt im Eifel-Ort Prüm. Gottfried Böhm war damals 26 Jahre alt. Er machte im selben Jahr in München sein Diplom, nachdem er an der Technischen Hochschule Architektur studiert hatte, doch auch Bildhauerei an der Akademie der Bildenden Künste. Bildhauer zu werden, war eine berufliche Alternative, die ihm reizvoll erschien. Aber das Atelier des Vaters bot die Möglichkeit, sich wie selbstverständlich ins Bauen einzuarbeiten. Gottfried Böhm hat verschiedentlich an anderen Stellen und in anderen Partnerschaften mitgearbeitet, sich auch für ein halbes Jahr in den USA aufgehalten. Doch als der Vater 1955 starb, war es keine Frage, dass der inzwischen berufserfahrene Sohn das Büro weiterführen würde. Das Werk Dominikus Böhms war der erste und dauerhafteste Einfluss auf seinen Sohn; nicht zufällig hing ein Bronzeportrait, von Gottfried gestaltet, über seinem Arbeitsplatz im Haus der Familie auf dem Römerberg. Wie Dominikus wurde Gottfried Böhm ein großer Kirchenbauer. Bis in die siebziger Jahre hinein überwogen die sakralen Aufträge. Das Werkverzeichnis zählt an die 50 realisierte Kirchen.

Von Gottfried Böhms vier Söhnen sind drei selbst wieder Architekten geworden und haben ihrerseits Kirchen gebaut. Nimmt man hinzu, dass auch die Generation vor Dominikus Böhm, das Großelternhaus von Gottfried Böhm also, schon im Baugeschäft tätig war, zeichnet sich das Bild einer weitverzweigten Baumeisterfamilie ab, wie sie in anderen Zeiten üblicher war als heute, im Mittelalter bei den Parlers, im Barock bei den Bährs, Dientzenhofers oder Thumbs. In unseren schnelllebigen Zeiten nimmt es sich fast wie ein Anachronismus aus, dass und wie die Väter und Söhne Böhm - Gottfried Böhms Frau Elisabeth nicht zu vergessen, gleichfalls Architektin - über Generationen hinweg Kontinuität und vor allem Qualität wahrten, Wissen und Erfahrung überlieferten. Das musste nicht verbal geschehen; bei Architekten läuft ja ohnehin vieles über Skizzen, Zeichnungen, Modelle. Man weiß in den Wohn- und Arbeitshäusern der Böhms, die über das Kölner Villenviertel Marienburg verstreut sind, auch ohne große Worte, was zum Namen Böhm passt und was nicht.

In Iwan Turgenjews Roman Väter und Söhne sind die Väter die liberalen Idealisten und die Söhne die rebellierenden, illusionslosen Materialisten. Mit solchen handlungsträchtigen Konflikten kann die Architektenfamilie Böhm nicht aufwarten. Bei ihr existiert so etwas wie ein ungeschriebener Generationenvertrag. Man redet miteinander, übt wechselseitige Kritik, hat natürlich im Kopf, was der Vater und was der Großvater gebaut und entworfen haben. Die Büros der Söhne sind durchlässig untereinander, der Grad der Unabhängigkeit wechselt. Böhm senior - jetzt ist Gottfried Böhm gemeint - hat schon mit jedem seiner drei Söhne gemeinsam Projekte entwickelt. Hat der eine mehr Aufträge, als er zur Zeit bewältigen kann, beteiligt er den oder die anderen daran. Natürlich ergeben sich daraus auch Profilierungsprobleme. Denn letztlich möchte auch jedes der Familienmitglieder als Architekt sui generis wahrgenommen werden, mit erkennbar eigener Handschrift.

Schon der erste Bau, mit dem Gottfried Böhm sich in die Geschichte der deutschen Nachkriegsarchitektur und - noch wichtiger - in die Herzen der Kölner eingeschrieben hat, war ein Auftrag, der vom Älteren dem Jüngeren weitergegeben wurde, von Vater Dominikus an Sohn Gottfried. Dominikus war mit dem Neubau einer Kapelle im Ruinengelände von St. Kolumba beauftragt und überließ die Aufgabe dem Jüngeren. Es gibt in Nachkriegsdeutschland nur wenige Gebäude, an denen sich die Stimmung der allerersten Nachkriegsjahre so sehr festmachen ließe wie an diesen kleinen, achtseitigen Zentralbau, dem der erhaltene Turmstumpf als Vorhalle diente. Eine spätgotische Muttergottes hatte eingemauert am Chorpfeiler den Bombenhagel überstanden. Ihre Rettung vermittelte in der Not der Jahre die Hoffnung aufs Überleben, wirkte als ein Symbol des Lebens, des physischen wie des spirituellen. Der Bau ist mit alter und neuer bildender Kunst überreich versehen, konnte gar nicht genug geziert und geschmückt werden, als Zeichen der Verehrung und Dankbarkeit für die Rettung aus der Katastrophe. Ein Wasserspeier in Gestalt eines Bären stammt vom Architektenbildhauer Böhm selbst.

Unter Kölnern war dieser kleine Bau ein Zufluchtsort bis auf heutige Tage. Wer abseits der nahen Geschäftsstraßen einen Moment der Sammlung und Stille brauchte, ging über einen kleinen ausgesparten Vorplatz in die Kapelle und rastete, das Einkaufsnetz oder die Aktentasche neben die Kirchenbank gestellt, für ein paar Augenblicke im dunklen Glanz der Farbfenster. Seit langem wird dieser kleine Bau überfangen vom Diözesanmuseum, das der Schweizer Baumeister Peter Zumthor auf diesem Grundstück errichtete. Die Kapelle wurde nicht abgerissen, sie blieb materiell erhalten und von der Straße her direkt zugänglich. An der neuen hohen Westfassade zeichnet sie sich als grafisches Bild ab, als Schatten gewissermaßen. Doch als dreidimensionales Volumen ist sie von außen nicht mehr verständlich. Ringsum ist die Situation der Zerstörung, die den kleinen Neubau erklärte, beseitigt. Sechzig Jahre danach duldet offenbar niemand mehr Trümmer. Im umgebenden, nun überdachten Ausgrabungsgelände des ehemaligen Kirchenschiffs von St. Kolumba und darüber in den Ausstellungsetagen wandeln die Besucher des Museums. Ein Konflikt ist geblieben: Während sich Menschen in der Kapelle unten der stillen Andacht oder Konzentration hingeben, gehen rings umher, nur durch Mauerbreite oder Deckenhöhe getrennt, Kunst- und Geschichtsfreunde ihren ganz andersgearteten Interessen nach. Beim Wettbewerb, in dem der Schweizer Peter Zumthor sich mit dem ersten Preis durchsetzte, hatte keiner der Kölner Architekten in ihren eingereichten Entwürfen dieses Bauwerk überbauen wollen. Sie wussten, warum.

Mit der Kapelle von St. Kolumba in Köln begann Gottfried Böhms eigener Weg. Er führte zu einem Werk von ausgeprägter Eigenart, die sich in einer ebenso ungewöhnlichen Art und Weise entwickelte. Natürlich kann sich niemand, der heute mit Erfolg bauen will, dem Geist der Zeit entziehen. Der wehte in den vergangenen Jahrzehnten ja oft sehr heftig und wechselte schnell die Richtungen. Auch bei Böhm weiß man fast immer, wann ein Bau entstanden ist und welcher internationale Kontext dazugehört. Es ist ja kein Oeuvre, das außerhalb der zeitgenössischen Welt stünde.

Als die Moderne nach Deutschland zurückkehrte und den jungen Architekten 1951 auf einer Studien- und Arbeitsreise Mies van der Rohe in Chicago und Walter Gropius in Harvard beeindruckt hatten, entwarf er flache Bungalows und leichte Gerüststrukturen; sogar für sein eigenes Wohnhaus am Rheinufer. In den sechziger und frühen siebziger Jahren war der so genannte Brutalismus mit seinen eindrucksvollen und manchmal auch grotesk überzogenen Betonskulpturen unterwegs. Böhm zeichnete und errichtete Theater wie Felsschollen, Rathäuser wie Bürgerfestungen, Gotteshäuser wie Wehrkirchen. Manchmal erinnern diese Bauten an Visionen, wie sie vierzig Jahre zuvor die Expressionisten aufs Papier brachten und nur selten realisieren konnten. Nicht zufällig hat auch Vater Dominikus in den zwanziger Jahren einige der eindrücklichsten Sakralbauten seiner Zeit in stimmungsvoller Expressionistengotik entworfen. Böhm senior, also in diesem Fall Dominikus, hatte damals mit Behagen registriert, dass ihn die Mitwelt als einen der ausgefallensten Expressionisten seiner Zeit betrachtete. 

Den so genannten Strukturalismus mit seinen zellularen Konzepten und hierarchiefeindlichen Reihungen, mehr fortsetzbare Struktur als geschlossener Baukomplex, exportierten vor allem die Niederlande. Bei Böhm entsprechen ihm Baugruppen, die sich bis auf betonte Ausnahmen aus einzelnen gleichrangigen Zellen zusammensetzen. Gemeindezentren wurden jetzt zu scheinbar provisorischen Pilgerlagern. In Wigratzbad im Allgäu handelte es sich um einen von der Amtskirche zunächst nur eben geduldeten Wallfahrtsort, bei dem offen stand, ob er sich auf Dauer dort etablieren würde. Nur die Orte der Prinzipalstücke - Altar, Sakramentsort, Taufstelle - sind durch höhere Aufbauten ausgezeichnet.

Sogar die spätere Postmoderne meint man gelegentlich im Schaffen Gottfried Böhms zu spüren: beispielsweise in symmetrisch geordneten, palastartigen, mit Turmaufsätzen bestückten Verwaltungs-, Bank- oder Kulturgebäuden. Die vorherrschende rhetorische Figur der Postmoderne war die zitierende Ironie. Der Witz lag in den heterogenen Quellen, die für die Kenner und Wissenden kompiliert wurden, für den Unwissenden sich aber nur als etwas Buntes, Abwechslungsreiches darstellten. Das machte die Postmoderne zu einer hochmütigen Angelegenheit, die zwischen dem Spaß der Intellektuellen und dem Vergnügen der Menge unterschied, obwohl sie die einen wie die anderen bediente. Bei Böhm changieren Bauten dieser Epoche zwischen Märchenlaune und Humor. Hochmut liegt ihnen fern, die Ambivalenz der Äußerungen ebenso. Beim Kulturhaus in Itzehoe fühlt man sich an ein Festzelt erinnert, das an dicklichen Masten festgemacht scheint.

Denn merkwürdig: Aus allen diesen Arbeiten und Anregungen von außerhalb wurden Gebilde, die unverwechselbar Böhm sind. Mit Vorstufen im eigenen Werk oder bei seinem Vater Dominikus haben sie mehr zu tun als mit dem, was in- oder ausländische Architekten anderswo machten. Man könnte von zwei Zeitachsen sprechen. Die eine ist die horizontale, die einen Künstler mit dem verbindet, was Zeitgenossen tun und treiben. Die andere ist die vertikale, die das gegenwärtige Werk mit dem vergangenen, dem eigenen wie den ihm nahestehenden, verbindet. Gottfried Böhms Arbeit ist mehr von der vertikalen als von der horizontalen Achse bestimmt. Was von außen hereinkommt, wird geprüft und beurteilt. Aber gemessen wird es an den Maßstäben, die sich aus dem bereits Erreichten, Gefundenen, Bearbeiteten ergeben, aus dem, was aus der Vergangenheit in die Gegenwart herein ragt. Und nur dann werden sie als mitsprechender Einfluss zugelassen. In diesem Sinne ist Gottfried Böhm ein Traditionalist. Die Tradition des eigenen Schaffens, der eigenen Familie und auch die der Baugeschichte sind ihm wert und teuer. Das Neue ergibt sich aus den Verwandlungen des Vorhandenen; selten aus einem völlig andersartigen Ansatz.

Das bedeutet: Dieses Werk kennt Haltungen, Themen und Motive, die es kennzeichnen, wann immer auch die einzelnen Bauten entstanden sind. Manchmal kehren sie nach langer Zeit wieder. Böhm vergisst selten etwas. An manchen Aufgaben arbeitet er unvernünftig lange, auch dann noch, wenn die Aktualität längst über sie hinweggegangen ist. Am Umbauentwurf des Wallotschen Reichstagsgebäudes in Berlin hat er noch gesessen, als der Wettbewerb 1993 abgeschlossen war und der glücklichere Konkurrent Norman Foster längst den Auftrag hatte. Es war eine Aufgabe, die ihn nicht losließ. Böhm war bei diesem Projekt mit sich selbst noch nicht im Reinen, und er nahm sich die Zeit, die es brauchte, um mit sich selbst ins Reine zu kommen.

Was macht Gottfried Böhms Werk charakteristisch und unverwechselbar?  Die Rolle der Technik als einer Inspirationsquelle ist ein Moment, das man nicht auf den ersten Blick mit Gottfried Böhms Schaffen verbindet. Als dienendes Element bei der Verwirklichung seiner Formvorstellungen hat er der Bautechnik, vor allem dem Betonbau, stets ein hohes Maß an Leistung abverlangt. Aber auch als formbildender und –entscheidender Faktor. Tatsächlich sind in jeder Phase seines Schaffens Bauten entstanden, die ihren Gestus aus der Kunst des Wölbens und Überfangens entnehmen und innovative Kraft darein gesteckt haben.

Ein Thema, das ihn von Anfang an beschäftigt hat - schon bei der Kapelle von St. Kolumba - ist das der hängenden, fast textil wirkenden Eindeckung. In der Längsachse vor dem Oktogon liegt ein Stahlträger, von dem ein mit Beton belegtes Maschennetz abgehängt ist. Der geschweifte Giebel an der Straßenfront zeichnet die durchhängende Dachform nach. „Gewebedecken“ nannte Böhm diese Technik der aufgehängten Betonschalen. Sie haben Vorgänger im Werk des Vaters, der in Kirchen der frühen und mittleren 20er Jahre mehrfach Putzschalen verwendete, die an Konstruktionseisen befestigt waren. Solche scharfgratigen Rabitzkonstruktionen überspielten die Trennung von tragenden Wänden und getragener Decke. Aber die aufgehängten Betonschalen seiner „Gewebedecken“ schienen dem Jüngeren konstruktiv richtiger und ehrlicher als die fulminanten Scheingewölbe aus dem väterlichen Atelier.

Bei einer Kirche wie St. Albert in Saarbrücken, 1951-53, springen außenliegende Strebebögen eine zentrale, aber azentrisch sitzende Glasrotunde an. Im Alterswerk gibt es eine ganze Gruppe von Hallen und Sälen, die von übereinander gestaffelten, von Masten abgehängten Dachblättern aus Stahl- oder Betontafeln gebildet werden. An diese Entwürfe hat sich lange kein Bauherr gewagt. Erst beim Potsdamer Theater konnte Böhm das Prinzip anwenden. Mit dem Blick auf diese Werkgruppe kann man den Irrtum eines amerikanischen Architekturkritikers verstehen, John Burchard. Er hatte 1966 in einem Buch über die deutsche Nachkriegsarchitektur die Meinung geäußert, Gottfried Böhm sei wohl doch mehr Ingenieur als Künstler.

Die Beziehung der Kirchenbauer Böhm zu einer reformierten Liturgie ist seit den zwanziger Jahren eng. Dominikus Böhm arbeitete damals mit Martin Weber zusammen, der mit dem benediktinischen Reformkloster Maria Laach verbunden war. Beide arbeiteten idealtypische Lösungen für Meßopferkirchen aus, die 1923 in der einflussreichen Schrift Johannes van Ackens Christozentrische Kirchenkunst veröffentlicht wurden. „Auf jeden Fall“, forderte Böhm der Ältere, „muß der Raum konzentrisch wirken, auch wenn er elliptisch, rechteckig oder kreuzförmig gestaltet ist. Ein Gott, eine (einige) Gemeinde, ein Raum! Ein Gebet“. Einer dieser Idealpläne von Dominikus Böhm und Weber hieß Circumstantes, die Umstehenden. Sogar der doppelte Pfeilerkranz ist aus „umstehenden“ Stützen gebildet, die der Gemeinde ihre Haltung vorgeben. Die Forderung führte zu zentralisierten Grundrissen, in denen die Altarstelle stark betont ist, manchmal durch Lichttürme, die das immaterielle Licht auf den Altar als den Ort Christi schütten sollten.

Grundrisse, bei denen die Gemeinde sich innerhalb einer kreisförmigen Umfassung dem Altar zuwendet, finden sich auch bei Gottfried Böhm, so in der frühen, schönen Kölner Vorortkirche in Hürth-Kalscheuren. Von den sechs Apsiden nimmt die in der Eingangsachse gelegene den Hauptaltar auf. Die Betonpfeiler, 24 an der Zahl, stehen außen, circumstantes auch sie. In späteren Grundrissen löste Böhm die Regelgeometrie zugunsten freier Formungen auf. Aber die mehrseitige Focussierung auf den Altar blieb auch bei den eindrucksvollen Betonkirchen der sechziger Jahre.

Denn Ring und Mitte, das ist eines der großen Themen bei Gottfried Böhm, nicht nur bei sakralen, auch bei anderen, profanen oder halbprofanen Bauaufgaben. Sein berühmtes Rathaus in Bensberg umschließt als Bürgerburg die Mitte eines Platzes, in den der phantastische Treppenturm vortritt. Sein Kinder- und Jugenddorf in Refrath unterhalb von Bensberg bildet einen Ring, zu dem sich die Kinderhäuser wie in freiem Entschluss, unregelmäßig gruppiert, zusammenfinden. Sie umschließen einen zentralen Anger, dessen Zentrum eine Kapelle einnimmt. Sie wiederum hat in der Altarinsel ihre, wenn auch nicht geometrisch ausgezirkelte Mitte. In diesem Prinzip der mehrfachen Raumschalen, die sich schützend um einen Innenkern legen, bildet sich der Wunsch nach einer mit sich geeinten Gemeinschaft ab, in einer - wenn man so will - konservativen Gesellschaftsutopie.

Solche Deutungen knüpfen sich auch an ein anderes Motiv, das Böhm im profanen Bauen seit den sechziger Jahren einsetzte, die Passage. Böhm war längst nicht der einzige, der zu dieser Symbiose von Exterieur und Interieur griff. Die Passage, die überdachte, also witterungsunabhängige innerstädtische Bazarstraße, war eine Bauform, die im 19. Jahrhundert ihre erste Blütezeit erlebt hatte. In seinem Klassiker über dieses Genre hat Johann Friedrich Geist über dreihundert solcher Bauten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert nachgewiesen. Geists Buch erschien in der ersten Auflage 1969 und hat vielen Architekten und Bauherren diese Baugattung nahe gebracht. Bei Böhm finden sich zahlreiche solcher Binnenstraßen, in der klassischen Ausprägung als städtebauliche Verknüpfung durch einen Häuserblock hindurch wie in Hannover, Dudweiler, Köln. Er nahm sie auch in Einzelbauten auf, in Hotel, Rathaus, Bibliothek, Verwaltungsgebäude, Museum und sogar Amtsgericht. Jeweils parallele, mehrgeschossige Flügel begleiten eine höhere Innenhalle. Der Bautypus der dreischiffigen Basilika und der Bautypus der Passage verbinden sich in diesen Querschnitten.

Für einen Baumeister, der in Traditionen lebt, lag die Besinnung auf solche von der Geschichte ausgebildete Formen nahe. Was die Geschichte schon erfunden hat, muss nicht wiedererfunden werden. Darüber hinaus übte die Passage einen anderen Reiz aus. Der gebaute Weg, der durch die Tiefe der Grundstücke führt, erlaubt kompakte Urbanität. Die gläsernen Höhlen der Passagen gewähren Schutz unterm gemeinsamen Dach, und sie verknüpfen zugleich - abseits vom existierenden Straßennetz und zusätzlich zu ihm - Orte der Stadt untereinander. Umgekehrt gesagt: Sie setzen die Stadt ins einzelne Gebäude fort. An der Verbindung von Einzelbauwerk und Stadt war Böhm immer gelegen. Wir sind inzwischen die überdachten Einkaufszentren allerorten so sehr gewöhnt, dass wir die befreiende Wirkung, die von diesem Bautypus in seinen anspruchsvollen Exemplaren damals ausging, kaum noch nachvollziehen können.

Dass ein Haus wie eine kleine Stadt aufzufassen sei und eine Stadt wie ein großes Haus, ist ein Allgemeinplatz der Architekturtheorie seit der Antike. Aber deswegen ist der Satz ja nicht weniger nützlich. Es hängt mit unserer modernen Skepsis und zeitgenössischen Originalitätssucht zusammen, dass wir alten Weisheiten misstrauen. Böhm hat in den fünfziger Jahren Kirchenkomplexe gebaut, deren liturgische Orte und kirchliche Nebenbauten er in einem ausgegrenzten Bezirk vereinte, kleine Siedlungen wie eine Karawanserei hinter ihrer Umfriedung – formal noch in seinem asketischen Frühstil. In der phantastischsten Kirche, die je von seinem Zeichenbrett kam, der irritierend-großartigen Wallfahrtskirche in Neviges, fließt der Außenraum des Pilgerweges in den Kirchenraum hinein. Der Saal der Hauptkirche mit seinen Nebenkapellen und Nebenhöhlen, der siebentausend Menschen aufnehmen kann, wirkt in seinem vielfach gefalteten Betonmassiv wie ein sakralisierter städtischer Marktplatz. Diesen Eindruck unterstreichen Details wie die hohen Straßenlaternen im Innenraum.

Im Gefolge des Zweiten Vatikanums, des römischen Konzils von 1962-65, aber auch der unruhigen endsechziger Jahre, büßten die triumphalen Kirchenbauten an gesellschaftlicher, auch an innerkirchlicher Akzeptanz ein. Sozial orientierte Gemeindearbeit, die flexiblere Gehäuse verlangte, trat in den Vordergrund. Bei den seltener werdenden Neuprojekten reagierte Böhm nun mit Baugruppen, die sich aus kleinen Einheiten zusammenfügen wie ein Dorf oder eine kleine Stadt aus einzelnen Häusern. Aufträge wie die schon gezeigte Wallfahrtskirche in Wigritzbad im Allgäu oder das ökumenische Zentrum in Essen-Kettwig, beide in den späteren siebziger Jahren entstanden, stellen so etwas wie gebaute Gemeindearbeit dar: Vervielfältigung von Typenelementen, Überdachung offener Freiräume für Spiel und Feste, sparsam gesetzte Akzente wie höheres Dachzelt auf dem Altarbereich. Ein größerer Grad an innerer und äußerer Flexibilität war jetzt verlangt, für etwaige Nutzungsänderungen, Erweiterungen oder auch Reduktionen der Baumasse. Die großen Sichtbeton-Solitäre wichen elastischeren Bausystemen, die übrigens auch weniger kostenintensiv waren als die teuren und komplizierten Schalungsarbeiten für Ortbeton.

Die Formen der Raumeindeckung, die Planfigur von Ring und Mitte oder die städtebaulich motivierte Agglomeration, das sind auch die Mittel einer Wahl, die aus tief sitzenden Überzeugungen getroffen wird. Dass historisch erprobte Bautypologien wie der Zentralbau, die Basilika, das Zelt, der Rundturm oder eben auch die Passage für Böhm weiter verwendbare, wandlungsfähige, variierbare Vorgaben waren, spricht für Böhms Verhältnis zur Geschichte, das sich von dem vieler seiner Zeitgenossen unterscheidet. Gottfried Böhm hat sich oft mit historischem Bestand auseinandergesetzt. Er hat Burgen restauriert und ausgebaut, inmitten alter Städte Neues in ehrwürdiger Nachbarschaft errichtet, einem ursprünglich barocken Schloss in Saarbrücken einen modernen Zentralpavillon eingepflanzt.

Für den Umgang mit geschichtlicher Bausubstanz hatte sich in der Moderne dort, wo sie sich geschichtsbewusst verhielt, ein Comment herausgebildet. Für ihn stehen in Italien Namen wie Giancarlo di Carlo oder Carlo Scarpa, in Deutschland der des Eichstätter Diözesanbaumeisters Karljosef Schattner. Wichtig war diesen Fachkollegen die Zäsur, der deutliche Schnitt zwischen Alt und Neu. Das Vorhandene und das Neu Hinzugefügte sollten präzise voneinander unterscheidbar sein. War das eine schwer, wurde das andere leicht. War das eine geschlossen, blieb das andere durchsichtig. Der jüngere Eingriff wurde als revidierbare, im spezifischen Gewicht leichtere, fast immer durch Materialwechsel gekennzeichnete Zutat charakterisiert. Was hier praktiziert wurde, war so etwas wie die Kunst der Fuge.

Dem Kölner Architekten lag nicht an der Kunst der Fuge, sondern an der Kunst des Zusammenhalts. An einem Bau wie dem Rathaus in Bensberg fällt es schwer zu sagen, bis wohin die alte Substanz der Stadtburg erhalten blieb, wo sie wiederhergestellt und wo sie auf eigene Rechnung weitergeführt wurde. Irgendwo steht am Ende unverkennbar originaler Böhm. Aber wo das eine ins andere übergeht, ist schwer zu sagen. Wichtiger als die Unterscheidung war der Zusammenhang. Böhm ist kein Analytiker, er sucht die Synthese. Er hat so viel Selbstgefühl zu sagen: So, wie es jetzt geworden ist, soll das Neue gemeinsam mit dem Alten in die Zukunft überdauern. Auch das Zeitgenössische ist geschichtsfähig und hat ein Bleiberecht, indem es mit dem Historischen ein einheitliches, dauerhaft verwobenes und überzeugendes Ensemble bildet.

Böhm-Bauten besitzen eine kräftige, physische Präsenz. Das gilt übrigens für alle drei Generationen der Böhms. Dieser Eindruck hängt mit der Körperlichkeit, der Materialität und auch mit der Art und Weise zusammen, wie diese Bauten auf dem Boden aufsitzen. Selten berühren sie mit schmalen, von Luftraum umspülten Stützen den Grund. Zum spezifischen Gewicht trägt entscheidend die tastbare Struktur ihrer Oberflächen bei. Beton wurde gern schalungsrau belassen oder handwerklich bearbeitet. Ziegel ist im Büro Böhm zu allen Zeiten mit Vorliebe verwendet worden, sowohl wegen seiner kleinmaßstäblichen Textur wie wegen seiner taktilen Eigenschaften. Oft sind ihm Zuschlagstoffe beigegeben, die ihm die Körnigkeit und Farbigkeit von Naturstein verleihen.

Auch bei vorgefertigten Betontafeln verzichtete Böhm nicht auf reiches Wandrelief. Die Fassade für das Stuttgarter Verwaltungsgebäude des Betonherstellers Züblin - bietet geradezu eine Musterkarte dessen, was auch bei modernen industriellen Verfahren möglich ist: unterschiedliche Tönung der vor- und zurücktretenden Teile durch Zusatz von Eisenoxyd-Pigmenten, wulstartige Verstärkung dort, wo Teile aneinander stoßen und ausbrechen könnten, abgeschrägte Brüstungsplatten über den Fenstern, damit das Regenwasser besser abtropfen kann. Das Züblin-Haus ist ebenfalls ein Passagenbau mit einer hohen mittleren Glashalle. Auch wo Böhm große Räume überdeckt oder überwölbt, auch wo er viel Glas verwendet und Transparenz erzeugt, stellt sich der Eindruck bergender Gehäuse ein. Nichts wirkt hier leicht, transitorisch, revozierbar. Dieser Architekt scheint es mit der Meinung Artur Schopenhauers zu halten, die Werke der Baukunst müssten Schwerkraft sinnfällig machen; das sei ihr eigentliches Thema.

Böhms Bauten sind unübersehbar, gewichtig, fordern Aufmerksamkeit, ganz gleich, wie groß oder klein sie sind. Firmitas, Standfestigkeit, eine der drei Vitruvschen Tugenden, wird auch im Erscheinungsbild respektiert. Wo diese Bauten ihren Platz gefunden haben, erwecken sie den Anschein, als hätten sie es auf unabsehbare Dauer getan. Selbst bei einem Gebäude, das von allen Böhmschen der zeitgenössischen Katastrophenästhetik namens Dekonstruktivismus am nächsten kommt, den WDR-Arkaden in Köln, wirkt der Bau nicht, als stünde er vor dem Kollaps. Allenfalls drohen die kräftigen Arme der rosagrauen Pfeiler ein paar der gegeneinander verdrehten Glasschachteln über dem Haupteingang zu verlieren, wie jemand, der allzu viele Pakete zu tragen hat. Die Stabilität des Ganzen gerät damit nicht in Gefahr, auch fürs Betrachterauge nicht.

Es gibt kein Böhmsches Gebäude, das auf kühle Distanziertheit angelegt wäre. Das gilt sogar, wenn es wie die Ulmer Stadtbibliothek - bei Böhm eine Seltenheit - eine platonische Idealform angenommen hat, in diesem Fall die einer Pyramide. Doch die übereinander auskragenden Geschosse ihres Sockels vermitteln anschaulich den Eindruck gestapelter Lasten und der Sympathie für die benachbarten Altstadtbauten, so dass für Emotion auch hier gesorgt ist. Auf der Temperaturskala des Gefühls sind Bauwerke Böhms in der warmen Zone angesiedelt. Böhmsche Architektur beansprucht alle Sinne. Die Tragglieder, die Flächen und ihre Details wollen erfühlt, die Räume und Raumfolgen mit den Sinnesorganen für Gravitation, Motorik und Temperatur erfasst werden. Körpernahen Details wie Eingangszonen, Stufen, Griffen und Handläufen wird besondere Sorgfalt zuteil.

Böhm, der Wortkarge und scheinbar nach Innen Gekehrte, ging gern seiner Vorliebe fürs Schmückende, Festliche, Reiche nach. An Kunst, Deckengemälden, Glasbildern, Skulpturen, Brunnen, ja auch - horribile dictu - Ornamentik gibt es eher zu viel als zu wenig. Überfluss ist ihm lieber als Askese. In diesem Punkt ist seine Architektur den frugalen, manchmal heroisch-monumentalen Bauten unähnlich, die sein Vater seit den späteren zwanziger Jahren entworfen hat. Manche Bauteile sind bei Gottfried Böhm ihrerseits Träger von Kunstwerken. Das Gerücht besagt, in manchen Bauphasen sei er tagelang nicht erreichbar gewesen, weil er auf dem Gerüst gelegen und Deckenbilder höchstselbst gemalt habe. Das Handy war da wohl noch nicht erfunden; ich zweifle, ob er auch später eins in der Tasche hatte.

Wer so viel für die Kirche gebaut hat wie Gottfried Böhm, konnte keine Aversion gegen große Institutionen hegen wie die katholische Kirche, die Kommune oder der Staat welche sind. Die Überzeugung von der Notwendigkeit und Würde von Institutionen spricht aus der Arbeit der Böhms. Die Anthropologen haben den Menschen als ein Mängelwesen definiert. Seine Sonderstellung in der Schöpfung beruht auf dem Mangel sicherer Instinkte, den er durch Werkzeuge, Kulturtechniken und überindividuelle Einrichtungen kompensiert. „Eine jeweils kulturell geltende, einen Sinnzusammenhang bildende, durch Recht und Sitte öffentlich garantierte Ordnungsgestalt, in der sich das Leben der Menschen darbietet,“ so definiert das Wörterbuch der Soziologie den Begriff Institution.

Im Werk Gottfried Böhms gibt es viele Gebäude, die er für Institutionen entworfen hat, privatrechtliche wie staatliche, und kirchliche ohnehin: Häuser für den Gottesdienst, Rathäuser, Parlamentsgebäude, Gerichtsbauten, Kulturbauten. Das Pathos, das diesen Entwürfen auch bei kleineren Objekten eigen ist, brachte so leicht kein anderes Architektenatelier auf. Es hängt mit diesem Respekt für die Organisationen zusammen, mit deren Hilfe die Menschen ihr Zusammenleben regeln. Es ist, als wollte die Architektur Böhms sagen: Macht ist nichts Böses, wenn sie verantwortete Macht bleibt. Als solche hat sie Recht auf Ausdruck. Von „formgebender, integrierender Kraft“ sprechen die Soziologen und von den „stabilen Handlungsmustern“ der Institutionen. Vor allem im späteren Werk Gottfried Böhms finden sich solche „Ordnungsgestalten“, Palazzi mit Haupt- und Nebenachsen, symmetrische Anlagen, grandiose Treppenhäuser.

Nichts kennzeichnete diesen Respekt vor dem Institutionellen besser als das erwähnte Planungsgutachten für den Sitz des Deutschen Bundestags in Berlin, mit dem Gottfried Böhm 1988, also schon vor der deutschen Wiedervereinigung, vom Bund beauftragt worden war. Das Reichstagsgebäude des wilhelminischen Kaiserreichs war durch den Reichstagsbrand 1933 und im Zweiten Weltkrieg schwer zerstört worden. In den frühen sechziger Jahren hatte es Paul Baumgarten in vereinfachter und modernisierter Form wiederhergestellt, ohne seine frühere Vierkantkuppel.

In seinem unverwirklichten Projekt für den Umbau griff Böhm wie selbstverständlich auf die Kuppel als Würdeform zurück. Er fasste sie aber auf seine Weise auf. Wallot hatte die Kuppel lediglich mit dem Blick auf die städtebauliche Außenwirkung hin entworfen. Innen hatte sie keine Funktion. Böhm dagegen räumte sie dem Parlament ein, das in ihr hoch über der Erde tagen sollte, dem Himmel ein Stückchen näher als die anderen Sterblichen, ein „Hohes Haus“ im wörtlichen Sinn. Es wäre von einer Kuppel überwölbt worden, die in der letzten Entwurfsfassung aus beweglichen Dachschalen bestehen sollte. In Böhms Augen kam der Vertretung des Volkes dieser privilegierte Ort zu und kein anderer. Was und wer verdiente Hervorhebung, wenn nicht die vornehmste Instanz der Demokratie, ihr Parlament? Auf dem Dach hätte sich eine begehbare und begrünte Landschaft mit Höfen, Terrassen und Pavillons entfalten können, offen für das promenierende Volk, das sich auf derselben Ebene, der Dachfläche, wie seine Vertretung bewegt hätte.

Im Wettbewerb, der dem Planungsgutachten folgte, konnten Böhms Vorschläge sich nicht durchsetzen. Der britische Stararchitekt Norman Foster, der Wettbewerbsgewinner, musste sich im Lauf der Planung ebenfalls zu einer Kuppel bequemen. Populär, wie sie bei Berlin-Besuchern geworden ist, dient sie ausschließlich als Aussichtspunkt, zu dem man auf gegenläufig versetzten Spiralrampen empor- und hinabwandelt. Das Parlament hingegen sitzt weit darunter, in der Grube sozusagen, wo der Plenarsaal dank eines verspiegelten Riesenschnorchels mit reflektiertem Tageslicht und Frischluft versorgt wird. Für mich ist keine Frage, welches die glücklichere Lösung gewesen wäre.

Die Freude am Reichen, Detaillierten, am Überschuss der Formkraft. Die urbane Auffassung auch des Einzelbaus. Die Standhaftigkeit der gewichtigen Konstrukte. Das Gefühl für Kontinuität. Der Wunsch, Geschichte nicht als etwas Fremdes zu betrachten, das man nur im distanzierten Zitat aufgreift, sondern es als Teil des Ganzen zu verstehen, an dem man selbst arbeitet. Der Respekt vor den Einrichtungen, mit denen die Menschheit ihr Zusammenleben regelt. Ich denke, alle diese Besonderheiten in der Arbeit Gottfried Böhms hängen auch mit der Erfahrung jener Institution zusammen, die ihm besonders nahe steht, der eigenen Familie. „Eine Institution mit übersehbarem Kleingruppenhintergrund“, beschreiben die Soziologen, um sie noch einmal zu zitieren, die Familie. In unserer globalisierten Welt, in der alles mobil und alles unterwegs ist, alles sich in Jahresabständen ändert, Erkenntnisse, Techniken, mediale Praktiken, Handschriften, da ist dieser „übersehbare Kleingruppenhintergrund“ etwas, das zur stabilisierenden Eigenart des Böhmschen Oeuvres entscheidend beigetragen hat.

Das wäre ein schöner Schluss gewesen. Aber leider hat die Sache eine Nachgeschichte. Institutionen sind ihrerseits nicht der Geschichte enthoben. Sie verändern sich, wenn auch in langsameren Zyklen. Die Institution der Familie ändert sich, vielleicht am wenigsten bei den Böhms – soweit ein Außenstehender das beurteilen kann. Die Institution der Kirche ändert sich. Auch sie ist dem Zeitgeist ausgesetzt, der ihr bei Papstbesuchen und Kirchentagen Hunderttausende aufs Feld oder ins Stadion spült. Aber im Alltag beklagen die Amtskirchen den kontinuierlichen Rückgang der Kirchenmitglieder und Gottesdienstbesucher, einen akuten Mangel an Geistlichen, einen bedrohlichen Rückgang an Steuereinnahmen. Die Kirchen müssen  sich von Bauten trennen, die sie nicht mehr unterhalten zu können glauben. Die Diözesen und Landeskirchen gehen unterschiedlich vor, je nach Kassenstand – am rigorosesten die Erzdiözese Berlin und die Ruhrdiözese Essen. Allein das Ruhrbistum wollte sich schon vor Jahren von 96 Kirchengebäuden trennen, das ist sage und schreibe rund ein Drittel seines Bestandes.

Von diesen Entwicklungen sind auch Böhm-Kirchen betroffen, von Dominikus wie Gottfried Böhm. In St. Ursula in Kalscheuren bei Köln ist der so genannte Entwidmungsgottesdienst im Jahre 2006 begangen worden: dieser frühe Beinahe-Zentralbau, entworfen 1952, war hochbedeutend in der Form, in der liturgischen Konzeption und in der künstlerischen Ausstattung. Das ungewöhnlich vielfältige und unverwechselbare Werk Gottfried Böhms kann uns Betrachter nicht nur mit der Genugtuung erfüllen, dass so viel Reichtum und Eigen-Sinn in unserem Massenzeitalter möglich gewesen sind. Es verpflichtet uns auch zur Sorge um seine Erhaltung. Man sollte denken, dass der Kunst-Charakter vieler dieser Bauten einen gewissen Schutz böte, denn nur Vandalen zerstören Kunstwerke. Aber in Zeiten, wo die Amtskirchen rote Listen für die Entsorgung von Kirchengebäuden aufstellen, droht Vandalismus nicht nur von Sprayern und Einbrechern.

 

Köln im August 2021