Im späten 17. Jahrhundert brachten die ortsansässigen Franziskaner ein kleines Marienbildnis nach Neviges, das im Zusammenhang mit einer Marienerscheinung und Wunderheilung stand. In dem sonst protestantisch geprägten Ort etablierten sie damit einen Wallfahrtsbetrieb, der auch unter dem Zeichen der Gegenreformation verstanden werden kann. Über die Jahre hinweg und gerade nach den beiden Weltkriegen strömten immer mehr Pilger hierher: An Sonn- und Feiertagen waren es ca. 10.000, an den Werktagen zwischen 500 und 4.000 Personen. Weil die kleine Klosterkirche, die das Marienbildnis beherbergte, nur 200 Sitzplätze fasste, mussten die Pilgergottesdienste in Schichten organisiert oder ins Freie verlegt werden. Das konnte kein Dauerzustand bleiben — eine neue Wallfahrtskirche musste her. Also führten die Franziskaner Anfang der 60er Jahre einen Architekturwettbewerb durch. Unter den fünfzehn einreichenden Teilnehmer/innen war auch Gottfried Böhm, der das Rennen mit seinem Entwurf in einer zweiten Überarbeitungsrunde für sich entscheiden konnte. Die Kirche wurde nach zwei Jahren Bauzeit am 23. Mai 1968 eingeweiht.
Die Wallfahrtskirche in Neviges hat einen ellipsenartigen, unregelmäßigen Grundriss, der von zahlreichen runden und zugleich kantigen Ausbuchtungen der Seitenkapellen geprägt ist. Aus ihm heraus erwächst durch die in Stahlbeton ausgeführten Wände, welche in ein kühn gefaltetes Dach mit mehreren Spitzen aus demselben Material überführen, die zeichenhafte Form der Kirche, die einem Gebirge ähnelt. Dabei unterscheiden sich Wände und Dachschrägen in ihrer Struktur: Die senkrechten Außenwände wurden nach dem Aushärten des Betons gesandstrahlt, während das gefaltete Dach das horizontale Muster der Holzbrettschalung zeigt. Die Wallfahrtskirche wird von weiteren Sichtbetonbauten begleitet, zu denen ein Pilgerheim und ein Kindergarten gehören. Böhm ordnete die Gebäude des Ensembles so auf dem Bauplatz hinter dem alten Kloster an, dass eine reizvolle Gestaltung des finalen Stückes Pilgerweg entsteht. Denn wer nach Neviges reist - und sei es nur mit dem Auto - den macht Böhm hier auf den letzten Metern zum Pilger: Schützend stellt sich das Pilgerhaus vor den Zugang zur Kirche in den Hang. Biegt man hier um die Ecke, führt ein Treppenaufgang direkt auf einen gepflasterten, ansteigenden Pilgerweg, der in einer Kurve zum Ziel, zur Kirche mit dem enthaltenen Marienbildnis führt. Entlang der rhythmisch angeordneten Runderker der Pilgerzimmer links und einer Reihe von in den Weg gepflanzten Platanen rechts erwandert man fünfzehn großzügig in Dreierkonstellationen angeordnete Treppenstufen, bis man den Kircheneingang erreicht. Von weitem waren noch die vielen Dachspitzen des gigantischen Betonfaltwerks, wie sie sich in den Himmel ragen, zu sehen. Auf der obersten Ebene des Pilgerweges angekommen, wachsen die Kirchenwände hoch vor einem empor und verstellen diese Sicht. Rätselhaft wirkt ihre verschachtelte Form.
Tritt man ein, fühlt man sich wie in einer riesigen, dunklen Höhle. Ein weiter, geheimnisvoller Raum eröffnet sich, eingeschlossen in der rauen Haut aus Sichtbeton. Dann treten allmählich die leuchtenden Fenster hervor: Weißes, sanftes Licht fällt durch die kleinen Dachlucken in etwa 30 Metern Höhe, lässt die in der Dunkelheit liegenden Faltungen des Dachgewölbes erahnen. Von den Seiten zieht tiefes Rot, Orange, Blau-Violett und Grün den Blick in die vom Hauptraum apsidenartig abgehenden Seitenkapellen. Es sind die Wandfenster, die Gottfried Böhm mit Kerzen-, Schlangen-, Fisch- und Rosenmotiven gestaltet hat. Sie tauchen die rohen Betonwände selbst an Tagen trüben Tageslichts in bunte Farben.
Je mehr sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnen, desto mehr nimmt man vom Formenreichtum im Inneren wahr: die Kanzel erweckt den Eindruck einer kantig definierten Tropfsteinsäule. Noch mehr geometrische Konfigurationen von solch skulpturalen Betonformationen bildet die mehrgeschossige Emporenwand auf der rechten Seite der Kirche aus.
Neben den großen, raumgreifenden Formen des Kirchenbaus hat Gottfried Böhm auch sämtliche Details und Ausstattungsgegenstände der Wallfahrtskirche selbst entworfen. Dazu gehören zum Beispiel die Kerzenhalter, Weihwasserbecken und das filigrane, frei arrangierbare Gestühl. Einzig die Mariensäule, in die das kleine Gnadenbild, zu dem die Pilger wandern, eingelassen ist, stammt von dem Kölner Bildhauer Elmar Hillebrand.
Die Wallfahrtskirche in Neviges stellt eines der berühmtesten Werke Gottfried Böhms dar und markiert den Höhepunkt seiner skulpturalen Betonphase im Kirchenbau. Aufgrund der expressiven Formgestaltung und Materialsichtigkeit wird sie häufig dem Brutalismus zugeordnet, was Gottfried Böhm selber allerdings dementierte. Die Art, wie der Sichtbeton als Baumaterial in Neviges zelebriert wird, sowie die Gestaltung als Architekturskulptur spiegeln unverkennbar Böhms bildhauerischen Hintergrund wider, dokumentieren zusätzlich aber auch ästhetische wie technologische Entwicklungen des Bauens der Zeit. Besonders und insbesondere charakteristisch für Böhm ist die Balance zwischen der Eigenwilligkeit der Gestaltung der Wallfahrtskirche und der durchdachten Integration des Entwurfes samt Vorplatz und Begleitbauten in das Stadtraumgefüge.
Als zweitgrößte Kirche im Kölner Erzbistum kommt der Wallfahrtskirche auch eine wichtige Repräsentationsrolle für die katholischen Kirche zu, die sich im Zeichen der damals gegenwärtigen Liturgiereformen einer neuen Symbolhaftigkeit ihrer Bauten aufgeschlossen zeigte.