Die Pfarrei St. Agnes hatte bereits 1953 das Grundstück einer 62 Meter breiten Baulücke an der Krefelder Straße erworben. 1960 wurde die neu gegründete Pfarrei St. Gertrud von der Mutterpfarrei St. Agnes abgetrennt und man beauftragte umgehend Gottfried Böhm mit der Planung von Kirche und umfangreichen Gemeindebauten: Kirche mit 250 Plätzen, Glockenturm, vier Wohnungen, Kindergarten, Bücherei und Jugendheim. Im Juni 1962 war Baubeginn, am 26.9.1965 wurde die neue Kirche geweiht, im August 1966 war der gesamte Komplex fertiggestellt.
Seit 1991 gehört die Gemeinde St. Gertrud wieder zur ehemaligen Mutterpfarrei St. Agnes. In den letzten Jahren wird die Kirche St. Gertrud vor allem als Kulturkirche für Ausstellungen und andere Kulturprojekte genutzt. 2003 bis 2004 wurde eine umfangreiche und komplizierte Außensanierung durchgeführt, um zahlreiche Schäden der Betonoberfläche zu beheben.
Die Kirche und ihre zugehörigen Gemeindebauten stehen heute ganz selbstverständlich an der Krefelder Straße und lassen durch ihre zurückschwingende Fassade sogar einen kleinen Vorplatz frei, der dem engen Straßenraum guttut. Das zu bebauende Grundstück war jedoch herausfordernd für den planenden Architekten: Ein längliches Grundstück zwischen bestehender Wohnbebauung, östlich von der Krefelder Straße, westlich von der breiten Bahntrasse begrenzt. Dort wollte die neue Gemeinde ein umfangreiches Bauprogramm realisiert haben. Böhm liefert mit seinem Entwurf „ein herausragendes Beispiel einer städtebaulich geglückten Einpassung“ (Kier 2000).
Südlich und nördlich nehmen die Gemeindebauten die Dimensionen der anschließenden Wohnbebauung auf, vermitteln mit breiten horizontalen Betonbändern zur mittig stehenden Kirche. Kirche und Gemeinderäume bilden im Material und im Bauverbund eine Einheit, sind gestalterisch jedoch klar voneinander abgesetzt. Am kleinen Vorplatz liegt zwischen Kirchenportal und hochaufragendem Turm ein Durchgang zum Innenhof, der die Pfarrbauten und den rückwärtig liegenden Kindergarten samt kleiner Außenflächen erschließt. Der eigentliche Kirchenbau schließt zwar unmittelbar an die Gemeindebauten an, ist zur Straße aber durch eine stärkere plastische Durchgliederung mit Hilfe von drei vorspringenden, kapellenartigen Bauten und vollkommen geschlossenen Wandflächen im unteren Bereich deutlich abgesetzt und herausgehoben.
Die drei vorspringenden Annexe sind über der Traufkante des Komplexes übergiebelt und mit großen Fensterflächen im Giebel geöffnet. Das unregelmäßig gefaltete Dach ist von der Straße kaum sichtbar. Der gesamte Komplex und insbesondere die Kirche ist eine plastisch durchgestaltete Sichtbetonskulptur aus Waschbeton, die sich dem städtebaulichen Kontext überzeugend einfügt und eine äußerst qualitätvolle Zäsur im Straßenraum bildet.
Durch das schwere Eisenportal im nördlichsten Annex am kleinen Vorplatz gelangen die Besucher/innen in die dämmerige Kirche, deren Innenraumstruktur sich nur langsam erschließt. Der unregelmäßige polygonale Grundriss, massive Betonwände, wenige, zum Teil sehr große Fensteröffnungen und eine unregelmäßig gefaltete Decke bilden einen nicht auf den ersten Blick erfassbaren Raum. Der Altarbereich liegt dem Eingang schräg gegenüber im Süden. Das Bodenniveau des Eingangsbereichs ist seitlich entlang der Konchen (Nischen) bis zum Altarbereich fortgeführt, der Gemeinderaum ist demgegenüber um vier Stufen abgesenkt, rückwärtig und seitlich führen auf ganzer Länge Stufen hinunter. Die beiden südlichen Konchen bilden kapellenartige Räume für verschiedene liturgische Funktionen (Taufe, Tabernakel), am Übergang zum Altarbereich ist aus der Brüstungsmauer die Kanzel geformt.
Die unregelmäßige, prismatische Deckenfaltung erschließt sich aufgrund des Dämmerlichtes und der Perspektive erst beim Begehen des Raumes. Einzelne Faltungen führen von den drei Konchen weg, der Altarbereich ist durch eine besonders hoch geführte Spitze ausgezeichnet. Unter dem Altarbereich liegt eine Krypta mit trapezförmigem Grundriss, umlaufender Bank und schlichtem Blockaltar.
Altar, Tabernakel und Taufstein sind aus Trachyt gearbeitet, Kanzel, Beichtstühle und der Standort der Marienfigur sind dagegen wie die Außen- und Innenwände aus Waschbeton und führen so die große Architekturplastik im Detail fort. Alle wurden 1964 von Gottfried Böhm entworfen. Von Böhm stammen auch die Entwürfe für die mit stilisierten Rosen gefüllten Giebelfenster der Konchen und das große Fenster mit einer Weinstockdarstellung westlich des Altarraums. Das große rückwärtige Fenster ist ein abstrakter Entwurf des Kölner Glaskünstlers Fritz H. Lauten (1935-1989) von 1968.
St. Gertrud ist eine frühe, stark vom Béton brut beeinflusste Architekturskulptur und gehört zu den äußerst innovativen, wegbereitenden Bauten ihrer Zeit. Die damals besonders im Profanbau weit verbreitete Gestaltungsrichtung des „Béton brut“ / Brutalismus findet hier eine Umsetzung im Sakralbau. Wichtigste Eigenschaft: schalungsrauer Beton oder Waschbeton zeigen kompromisslos die Konstruktion der Gebäude.
Während der Außenbau gestalterisch und städtebaulich sehr überzeugt, wirft der Innenraum in funktionaler und raumästhetischer Sicht kleinere Probleme auf. Die für die Raumbildung bedeutende Deckenfaltung erscheint mit Ausnahme des den Altar überfangenden Bereiches willkürlich und unterstützt die liturgische Raumgliederung nicht, auch die zurückgenommene Belichtung wirkt nicht als mystisches Dunkel und kann nicht richtig überzeugen. Hier wirkt die kristalline Betonskulptur noch etwas unausgereift, spätere Bauten Böhms gelangen zu einer besseren Übereinstimmung von Raumbildung und liturgischer Konzeption.
St. Gertrud steht in Böhms bedeutender Reihe von Betonskulpturen relativ am Anfang. Ein erster Entwurf für den Kirchenbau im März 1961 war noch stark dem älteren Prinzip der turmüberhöhten liturgischen Orte verhaftet: er sah noch eine regelmäßige achteckige, turmbekrönte Gestalt der späteren Konchen und des Turmes vor, der gesamte Raum wäre vermutlich mit einem Flachdach gedeckt worden. Bereits im April 1961 entstand der später realisierte, sehr viel stärker skulptural wirkende Entwurf mit Faltdach. Die nachfolgenden Bauten setzen das Prinzip der kristallinen Skulptur mit einem ausgereifteren raumbildnerischen und liturgischen Konzept um. Dennoch ist St. Gertrud als wegbereitender Bau für das Werk Böhms von großer Bedeutung und überzeugt nicht zuletzt durch die gelungene Realisierung unterschiedlicher Gemeindebauten auf schmalem, schwierigen Grundstück.
Autorin: Dr. Monika Schmelzer